Kurzgeschichte ll - Eigene Welt

Kurze Einleitung: Die Geschichte ist ewig alt, unfertig und irgendwie habe ich die Eigenschaft Dinge anzufangen und nicht zu Ende zu bringen. Ich habe vor noch ein paar Weitere auszukramen..vielleicht hilft das ja. Und wenn sie dich nur ein wenig unterhalten...viel Freude mit Elise:

 

Am Morgen des 125. Aprils nach Pernaths Tod saß in der alten Turmgasse eine junge Frau in der kalten Küche einer Altbauwohnung. Sie saß am kleinen, blassblauen Tisch, eine dampfende Tasse in den Händen während der graue Kater ihr schnurrend um die Beine strich. Die Gasse füllte sich langsam mit Menschen, die zur Arbeit wollten, Kinder die zur Schule gingen und den streunenden Hühnern der alten Witwe von gegenüber. Elise starrte auf die Fliege die das Fenster erklomm. Immer weiter. Nun war sie in der Mitte angelangt, blieb sitzen und putzte sich mit den Vorderbeinchen die zu groß geratenen, trüben Insektenaugen. Nach einem weiteren Schluck aus ihrer Tasse stand Elise auf und wanderte näher an das Fenster heran. Die Fliege flog weg, weiter hinein ins Zimmer. Als Elise das Fenster öffnete erklangen die Geräusche der Gasse. Immer wieder erstaunte es sie, dass sie diese Geräusche mit dem bloßen Schließen des Fenster einfach aussperren konnte. Manchmal genoss sie die Ruhe, die darauf folgte, doch meist hielt sie die Fenster geöffnet. Heute morgen hatte sie, wie so oft gewartet. Darauf das sie sich bereit fühlte für die Stimmen, das Gelächter und für das Gezanke der alten Witwe von gegenüber, wenn die Kinder ihre Hühner hin und her scheuchten. Die Ruhe vorher nutze Elise um sich an Pernath zu erinnern und darüber nachzudenken, warum sie selbst und die Welt nach seinem Tod nicht mehr zusammenzupassen schienen. Eigentlich war sie nicht übermäßig traurig gewesen, als Pernath Köhlers Herz 125 Apriltage vor heute stehen blieb. 4 Jahre, 3 Monate und 5 Tage zuvor. Aber sie war eben auch nicht glücklich darüber gewesen.

 

Elise wusste von klein auf, dass sie etwas von anderen unterschied. Sie selbst glaubte aber eher, dass andere sich von ihr unterschieden. Nicht etwa, weil sie besonders hübsch war oder toll Klavier spielen konnte. Nein, Elise sah, wenn sie nach draußen schaute eine Welt, die andere offenkundig nicht wahrnehmen konnten. Sie hatte einmal ihre Schwester belauscht, als diese über Elise mit dem neuen Arzt der Familie Köhler sprach. „Elise hat ihre eigene Welt, müssen sie wissen. Das kann auf eine Weise gut sein, aber manchmal ist..es einfach schwierig. Für meine Mutter ganz besonders. Sie leidet sehr darunter, dass Elise nicht spielt wie andere Kinder. Meine Mutter macht sich Sorgen, müssen sie wissen. Wenn Elise nach Hause kommt, hat sie oft diesen Gesichtsausdruck. Als sehe sie etwas ganz anderes statt dem was wir wahrnehmen können. Das ist oft etwas beängstigend...“

Für Elise hatte das wie eine Entschuldigung geklungen. „ Es tut mir leid, meine Schwester ist leider bescheuert, müssen sie wissen. Haben sie keine Angst, das kann am Anfang etwas ungewohnt für sie sein, müssen sie wissen.“ Elise mochte ihre Schwester sehr, aber seit diesem Tag war sie nie wieder spät weg gewesen. Sie blieb häufiger drinnen und versuchte zu spielen „wie andere Kinder“. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter sich sorgte. Und Elise wollte schon gar nicht, dass ihre Schwester die Leute vor ihr warnte, weil die sich erschrecken könnten. Aber offensichtlich gelang es ihr nicht, diesen Gesichtsausdruck, wie ihn ihre Schwester beschrieben hatte, abzugewöhnen. Oft sah sie eine Verwunderung oder gar ein leichtes Erschrecken auf den Gesichtern der Menschen, die Elise zum ersten Mal sahen.

 

Als Elise älter wurde, konnte sie besser mit Worten beschreiben, warum sie so gerne beobachtete und durch die Straßen und kleinen Gassen lief. Da draußen umfing sie eine bunte, lebhafte Welt voller Geräusche und Gerüche. Sie konnte sich darin vertiefen wie ihr Onkel Pernath in ein „besonders gutes Buch“ wie er es immer beschrieben hatte. Manche Gebäude und Orte faszinierten sie auf den ersten Blick, andere erst auf den zweiten oder dritten. Anderen ist ein zweiter Blick oft nicht gegönnt, dachte Elise. Dabei ist es gerade so beruhigend, zu wissen, das da noch mehr war außer dem ersten Blick. Ein paar Mal versuchte sie sogar aufs Papier zu bannen, was sie sah. Aber es wurde immer anders, immer ein nächster Blick, der ihr bis dahin verborgen war und den sie erst mithilfe von Pinsel, Tusche oder Bleistift entdecken konnte. Doch das störte Elise wenig. Sie freute sich über jede gewonnene, neue Sichtweise auf Etwas; es befriedigte ein Bedürfnis tief in Ihrem Selbst, einen „nächsten Blick“ erhaschen zu können. Pernath hatte das verstanden und war oft mit ihr spazieren gegangen, sodass sie zusammen Geschichten zu Gebäuden oder besonderen Plätzen erfanden.

 

Wie zum Beispiel für die kleine Lichtung im Knick vor der Stadtmauer. Sie setzte sich aus drei mächtigen, alten Bäumen zusammen, die mit ihrem Blätterdach und den kleinen Sträuchern am Boden eine Art natürlichen Pavillons bildeten. Der Bewuchs beschrieb einen Halbkreis, sodass die Lichtung zur stadtabgewandten Seite offen stand. Westlich war dann die Hauptstraße zu erkennen, die aus der Stadt heraus und herein führte, gesetzt den Fall, dass die Tore geöffnet waren. In östlicher Richtung schlossen sich nach gut einer halben Meile die ersten Bäume des nahen Waldes um den mäandernden Sandweg, der schließlich im Dunkelgrün verschluckt wurde. Der Knick mit dem kleinen Naturpavillon war nur dann ein Knick, wenn man mit dem Rücken zum Wald stand, sodass die Baumgruppe für sich zu stehen schien. Kam man von der Hauptstraße und blickte Richtung Osten, so verschwamm er optisch mit dem dahinterliegenden Wald und bildete eine große, grüne Farbmasse. Besonders wenn man die Augen zu Schlitzen zusammenkniff, trat dieses Phänomen gut hervor, fand Elise.

 

Elise stand also nun schon eine ganze Weile am Fenster, ehe sie sich umdrehte und den Rest aus ihrer Tasse austrank. Die Katze maunzte leise, als sie das Zimmer verließ und nach vierundfünfzig Treppenstufen unten vor der schweren, hölzernen Haustür stand. Es war ein kühler Herbsttag und nachdem sie drei Blöcke gelaufen war und die Umgebung in sich aufgesogen hatte, wünschte Elise sich, sie hätte ihren dicken Schal nicht oben in der Wohnung gelassen. Denn trotz seiner kratzigen Wolle wärmte er und es wäre besser gewesen als dieses kalte, raue Gefühl, dass sich nun in ihrem Hals ausbreitete.

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